Im August beginnt in den meisten Bundesländern mit Ende der Sommerferien das neue Schuljahr. Der Klassiker zu Anfang eines neuen Schuljahres: Lehrbücher, die schon zahlreiche Schülerhände durchlaufen sind und entweder zum Klatschen oder Schwitzen gebracht haben, finden ein neues Zuhause. Doch auch wenn ihre neuen Besitzer*innen über komplett unterschiedliche Stärken, Vorkenntnisse und sprachliche Hintergründe verfügen: Vor dem Mathebuch sind alle gleich. Aber auch bei einem ausgezeichneten Mathebuch geht diese Rechnung leider nicht auf. Denn die Gleichmacherei schlägt sich sowohl in Über- als auch Unterforderung nieder und hinterlässt wahlweise resignierende oder gelangweilte Schülerinnen und Schüler.
Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes von 2018 hat ergeben, dass im Schuljahr 16/17 148 200 Schüler*innen eine Klasse wiederholen mussten[1]. Möglicherweise wäre diese Zahl niedriger, wenn auf die individuellen Lernanforderungen der jeweiligen Schüler*innen eingegangen worden wäre. Es ist erstaunlich, dass es in der gleichen Welt, in der ich mir online aus über 1.000 Komponenten ein Müsli oder Katzenfutter mit persönlicher Note kreieren kann, nicht möglich ist, Schulen Lehr- und Lernmaterialien zur Verfügung zu stellen, welche die Individualität und verschiedenen Lerntypen der Schüler*innen berücksichtigen.
Zur Adaption freigegeben
Letztlich liegt es dann in den Händen der Lehrkräfte, den Stoff so zu vermitteln, dass alle die gleichen Chancen auf Lernerfolg haben. Doch wie die letzten Wochen gezeigt haben, kann die Lehrkraft nicht immer zugegen sein. Und auch im Präsenzunterricht ist es leichter gesagt als getan, auf die Bedürfnisse der Schüler*innen individuell einzugehen. Die durchschnittliche Klassengröße in sächsischen Oberschulen lag 2018 beispielsweise bei rund 24 Schüler*innen [2]. Einer einzelnen Lehrkraft ist es bei dieser Schüleranzahl nur schwerlich möglich, auf die Verschiedenheiten beim Lernen Rücksicht zu nehmen. Durch den Einsatz von digitalen Medien kann dem aber abgeholfen werden. Das Stichwort, wenn es um individualisiertes und digitales Lernen geht, ist Adaptives Lernen: Lerninhalte, Lernmaterialien, Lernzeitpunkte etc. werden an den einzelnen Lernenden angepasst [3].
Innovative Technologien können adaptives Lernen ermöglichen. Das Immersive Quantified Learning Lab setzt beispielsweise Analysemethoden ein, die Daten über Eye-Tracking, Wärmebildkameras oder Smartwatches erheben. Anhand solcher Daten und mit Hilfe von künstlicher Intelligenz können dann beispielsweise Schwierigkeiten beim Lernen erkannt und individuelle Vorschläge für die nächsten Lernschritte generiert werden.
Geht nicht? Gibt’s schon!
Doch nicht nur in der Forschung, auch in der Praxis werden solche innovativen Lernmethoden schon angewendet. So bietet zum Beispiel das Unternehmen bettermarks adaptive Online-Mathematikkurse für Schüler*innen verschiedener Klassenstufen an. Die Zusammensetzung der Inhalte und Aufgaben richtet sich individuell an dem Erfolg bei der bisherigen Bearbeitung von Aufgaben aus. Lehrkräfte können die Aktivitäten und Lernfortschritte ihrer Schüler*innen digital nachvollziehen und somit besser und zielgerichteter auf sie eingehen [5].
Darüber hinaus können digitale Lernmaterialien unterschiedliche Sinne ansprechen und hierdurch den Lernerfolg für verschiedene Lerntypen ermöglichen. Gedruckte Lehrbücher bieten dafür nur sehr begrenzte Möglichkeiten. In unseren E-Learnings (mehr dazu hier) kombinieren wir beispielsweise Elemente wie Videos, Graphiken, Infotexte und Quizze, um Schüler*innen zu ermöglichen, entweder über akustische, visuelle oder spielerische Reize den Inhalt für sich zu erschließen. Das Tempo des E-Learnings richtet sich dabei nach den Vorkenntnissen der Nutzenden und die einzelnen Inhalte sind flexibel wiederholbar. Sie werden darüber hinaus stetig aktualisiert und ergänzt, was bei einem Lehrbuch einen langwierigen Prozess mit sich zieht. Gerade in der heutigen Zeit, wo sich der Wissensfundus täglich verändert und ausweitet, wird in den Seiten des Lehrbuchs von heute häufig schon morgen der Fisch eingewickelt.
Nicht nur Autos sind künftig selbstgesteuert
Auch das immer populärer werdende Konzept des selbstgesteuerten Lernens integriert die Idee, dass Schüler*innen in Abhängigkeiten ihrer persönlichen Eigenschaften sowohl in der Schule als auch Zuhause ihr Lerntempo selbst bestimmen können. Die Lehrkräfte fungieren hier eher als Begleiter*innen der individuellen Lernprozesse [6]. Gerade hier besteht aber die Herausforderung, dass Schüler*innen hohe Kompetenzen in Bezug auf Organisationsvermögen, Selbsteinschätzung, Eigenmotivation etc. aufweisen müssen. Durch die Nutzung innovativer Technologien und künstlicher Intelligenz können jedoch sowohl Schüler*innen als auch Lehrkräfte dahingehend unterstützt werden, den individuellen Lernprozess innerhalb und außerhalb der Schule handhabbar zu machen.
Es ist noch ein langer Weg, aber es ist der richtige
Auch wenn es dem Mathebuch nicht gefällt: Schüler*innen sind verschieden. Wenn optimale Lernerfolge für alle erreicht werden sollen, dann sind standardisierte und undifferenzierte Lernmittel nicht gerade der heilige Gral. Für eine echte Individualisierung von Lernprozessen ist der Einsatz digitaler Medien unabdingbar und weitere Innovationen auf diesem Gebiet aus unserer Sicht erstrebenswert. Die jetzt schon intensive und auch erfolgreiche Nutzung von YouTube-Tutorials durch Schüler*innen zeigt, dass digitale Wissensaneignung funktioniert und nachgefragt wird. Natürlich setzt selbstgesteuertes und individuelles Lernen eine gewisse Disziplin voraus, doch durch das Ansprechen verschiedener Reize kann die Motivation dafür sie aufzubringen stark gesteigert werden. Dass laut Bildungsbericht 2020 nur rund 35% der Lehrkräfte der Sek. I Allgemeinbildender Schulen den Einsatz digitaler Medien als förderlich für Lernerfolge einschätzen [7], zeigt, dass hier noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. Wir werden allerdings nicht müde, hierzu beizutragen. Denn die Chancen, welche die Digitalisierung für ein selbstbestimmtes, motivierendes und erfolgreiches Lernen bietet, werden größtenteils nicht ausgeschöpft. Und unsere Schüler*innen sollten ebenso ein Recht auf Individualität haben wie unser Müsli.
Quellen
[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Schulen/Publikationen/Downloads-Schulen/broschuere-schulen-blick-0110018189004.pdf?__blob=publicationFile, S.24
[2] https://www.bildung.sachsen.de/blog/index.php/2018/12/28/statistik-mehr-schueler-im-aktuellen-schuljahr/
[3] https://www.connectsolutions.ch/de/blog/was-steckt-hinter-adaptivem-lernen
[5] https://www.bildungsserver.de/onlineressource.html?onlineressourcen_id=43948
[6] https://www.schulentwicklung.nrw.de/q/ganztag/lernzeiten-in-der-sekundarstufei/individualisiertes-lernen/selbstgesteuertes-lernen/selbstgesteuertes-lernen.html
[7] https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2020/pdf-dateien-2020/bbe20-kompakt.pdf, S.17