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Liebes Bildungssystem, wir müssen reden!

“Ihr wisst doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.” (DIE ZEIT 1995) Diese Aussage tätigte Gerhard Schröder 1995 in Bezug auf Lehrkräfte, damals noch in seiner Funktion als niedersächsischer Ministerpräsident. Und dieses Bild der „faulen Säcke“ wird immer wieder gern gezeichnet, wenn es darum geht, die Schuldigen für Missstände im deutschen Bildungssystem zu identifizieren. Und auch in der momentanen Corona-Krise wird dieses so offensichtlich unterkomplexe Argument gerne dazu verwendet, um sich der sehr komplexen Fragestellung zu nähern, warum das deutsche Bildungssystem bei seiner Digitalisierung nicht wirklich vorankommt. So wurden auch in der Sendung „Hart aber Fair“ vom 25. Mai zum Thema „Kinder und Eltern zuletzt – scheitern Schulen an Corona?“ schnell die Lehrkräfte als Hauptschuldige ausgemacht. Moderator Frank Plasberg entblödet sich nicht, immer wieder den Umstand ins Spiel zu bringen, dass viele Lehrkräfte den Brückentag nach Himmelfahrt frei machten, anstatt weiter zu unterrichten. Hätten sie gewusst, dass das Bildungssystem an einem Brückentag zu retten gewesen wäre, viele Lehrkräfte hätten hier sicherlich gerne Überstunden gemacht. Auch die weitere Diskussion dreht sich eher um die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Beamtentums und vermeintlich ungerechten Privilegien von Lehrkräften.

Es lässt sich sicherlich nicht bestreiten, dass manche Lehrkräfte Teil des Problems sind. Aber richtig ist auch, dass die meisten von ihnen momentan die einzigen Teile der Lösung eines Problems sind, das sie selbst nicht verursacht haben. Das „System“ in Bildungssystem deutet schon darauf hin, dass der Fehler hier zu suchen ist. Und ein System besteht aus zahlreichen Akteurinnen und Akteuren mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Befugnissen. Um sich den Missständen im Bildungssystem anzunähern, sollten also eher die systemischen Zusammenhänge beleuchtet werden, um herauszufinden, welche Räder nicht richtig ineinander greifen. Denn wenn ein Fisch anfängt zu stinken, beginnt man mit der Suche bekanntlich auch nicht bei der Schwanzflosse. Wir wollen daher in diesem Beitrag aufzeigen, wo es im Bildungssystem hakt und zu einer differenzierteren Debatte beitragen.

Zurück in den Normalzustand? Bitte nicht!

Momentan werden in den Bundesländern die ersten Schritte in Richtung Normalisierung des Schulalltags unternommen. Bis wirklich so etwas wie ein „Normalzustand“ an den deutschen Schulen erreicht wird, werden aber noch mindestens einige Monate vergehen. Insgesamt stellt sich jedoch die Frage, inwieweit ein „Schule funktioniert wieder wie vor der Krise“ überhaupt erstrebenswert ist. Die Mischung aus Präsenzunterricht und digitalem Fernunterricht wurde in den vergangenen Wochen als Improvisationsleistung von Schulleitungen, Lehrkräften und Eltern erbracht. Aber schon alleine vor dem Hintergrund einer potentiellen erneuten Krise mit ähnlichen Einschränkungen, muss die Anwendung von „blended learning“, also die Kombination von digitalem und klassischem Unterricht, verstetigt werden. Der bislang vorherrschende Improvisationscharakter muss fundierten und ganzheitlichen Konzepten weichen.

Denn nicht nur in Krisenzeiten bieten diese Konzepte einen Mehrwert, sie sind insbesondere für die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf das Leben in einer digitalen Gesellschaft unabdingbar und sollten daher längst Teil des Normalzustands an deutschen Schulen sein. Hierzu fehlt es jedoch vielerorts an dem nötigen digitalen Know-how sowie digitaler Ausstattung und Infrastruktur. Der diesbezügliche Nachholbedarf wurde durch die Corona-Pandemie schonungslos offengelegt. Er speist sich unter anderem durch die starren und komplexen Strukturen des deutsche Bildungssystems, welche innovatives und flexibles Reagieren auf gesellschaftliche Entwicklungen verhindern. Die Aussage eines Lehrers am Schickhardt-Gymnasium, welche als digitale Vorzeigeschule im Großraum Stuttgart gilt, zeigt den beschwerlichen Weg zur digitalisierten Schule als Normalzustand auf. Im Rahmen eines Interviews mit dem Deutschlandfunk sagte er:

„Wir hatten das Glück, dass im Altbau die Decke runterkam. Und damit sind wir saniert worden, auch die Elektroinstallation. Damit hatten wir schon den Grundstock geschaffen für die Digitalisierung. Ab diesem Zeitpunkt sind dann doch sechs bis sieben Jahre vergangen. Es hat dann doch recht lange gedauert, bis das alles durch war, bis dann alles im Schulnetz auch funktioniert hat. Und eigentlich sind wir erst seit einem halben Jahr so weit, dass wir sagen: ‚Es funktioniert.‘ Es hat tatsächlich sechs Jahre gedauert.“

Harald Hochwald, Lehrer am Schickhardt-Gymnasium (Deutschlandfunk 2020)

Diese langen Zeiträume zur Implementierung einer funktionierenden digitalen Infrastruktur und der Etablierung ihrer Nutzung im Unterricht werden dem bestehenden Handlungsdruck nicht gerecht. Darüber hinaus ist zu hoffen, dass Digitalisierung als Zufallsprodukt einstürzender Decken nicht den Normallfall darstellt. Bei den Ursachen für die stiefmütterliche Behandlung der Digitalisierung von Schulen handelt es sich hingegen zweifelsohne nicht um Zufallsprodukte. Sie sind in den strukturellen Schwächen des deutschen Bildungssystems und seinen „oftmals verkrustete[n] Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen“ (DF 2020) begründet. Der Präsident bei Didacta – Verband der Bildungswirtschaft, Theodor Niehaus, bringt hier unter anderem ein „Drei-Chefs-Prinzip“ ins Spiel, welches die nicht immer klar abgegrenzten und sinnvoll aufgeteilten Zuständigkeiten von Schulleitungen, Kultusministerien und Schulträgern meint. Inwiefern dies zur Blockade bei der der Digitalisierung führt, beschreibt Niehaus wie folgt:

„Und wenn man mit drei Chefs das Thema Digitalisierung besprechen muss, kann man sich vorstellen: Das ist aufwendiger, als wenn einer entscheidet: ‚Ich krieg‘ jetzt aus dem Digitalpakt x Millionen. Und jetzt schauen wir mal, wie wir das Geld sinnvoll anlegen.“

Theodor Niehaus, Präsident bei Didacta – Verband der Bildungswirtschaft (ebd.)

Über die Komplexität der Entscheidungsstrukturen und Zuständigkeiten zwischen den drei Akteuren Schulleitung, Kultusministerium und Schulträger hinaus, kommen weitere Akteure hinzu, welche Einfluss auf die Ausgestaltung der Schul-Digitalisierung haben. Die Elternschaft wird im Rahmen von Schulkonferenzen gehört und muss insbesondere bei der Nutzung von digitalen Tools und Apps durch ihre minderjährigen Kinder ihr Einverständnis erklären. Die Studiengänge im pädagogischen Bereich müssen die angehenden Lehrkräfte mit den nötigen digitalen Kompetenzen ausstatten, um eine sinnvolle Integration digitalen Unterrichts überhaupt zu ermöglichen. Schulbuchverlage und andere Bildungsanbieter müssen geeignete digitale Inhalte anbieten, die den heutigen Anforderungen gerecht werden. Und nicht zuletzt müssen auch die Schülerinnen und Schüler Gehör finden, damit ihre Lebenswelt und individuellen Neigungen Einzug in die Unterrichtsgestaltung finden. Damit letztere bei der momentanen Debatte über die Schule der Zukunft nicht hinten runterfallen, hat visionYOU kürzlich eine Kampagne mit dem Titel „#overtoyou20“ gestartet.

Steckt der Teufel im Detail? Auch, aber noch wohler fühlt er sich im System!

Um die Versäumnisse bezüglich der Digitalisierung von Schulen aufzuholen, hat die Kultusministerkonferenz 2017 die Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ veröffentlicht. In ihr wurden sechs verschiedene Handlungsfelder identifiziert, auf denen die Akteure tätig werden müssen. Anhand dieser Handlungsfelder möchten wir im Folgenden darstellen, welche Faktoren momentan das Fortschreiten der digitalen Bildung blockieren.

Schulverwaltungsprogramme und Bildungsmanagementsysteme

Ausgereifte und zertifizierte Schulverwaltungsprogramme und Bildungsmanagementsysteme müssen die Basis für die Kooperation und Kommunikation innerhalb des Kollegiums und mit den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern bilden. Momentan fehlt es an verlässlichem Zugriff auf digitale Kommunikations- und Lernplattformen und das Wissen um ihre Anwendungsmöglichkeiten. Zudem besitzen weder alle Lehrkräfte noch alle Schülerinnen und Schüler die nötigen (dienstlichen) Endgeräte. Die KMK fordert hier, dass die Entscheidung für eine bestimmte Lernplattform und deren anschließende Implementierung über die Einzelschule hinaus getroffen werden müssen – möglichst auf Schulträgerebene, idealerweise auf Landesebene (vgl. KMK 2018: 40). Diese Forderung weist darauf hin, dass momentan viele Bundesländer und Schulträger eher teure Eigenentwicklungen in Auftrag geben, die bezüglich ihrer Funktionalität oft weit hinter bestehenden Lösungen zurückbleiben. Es wird daher Zeit, dass über Landesgrenzen hinaus gemeinsam ein leistungsfähiges digitales Angebot geschaffen wird, das Standards (z.B. für Programmierschnittstellen), Lizenzen und Anforderungen an den Datenschutz vereinheitlicht. Um hierbei wirklich die beste Lösung auf dem Markt zu identifizieren ist es jedoch erforderlich, den diesbezüglichen Wettbewerb transparent und offen zu gestalten.

Daher sind momentan einige Bildungsakteure verwundert über das Vorgehen auf Bundes- und Landesebene in Bezug auf die Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts (HPI). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Entwicklungsprojekt des HPI seit 2016 mit gut sieben Millionen Euro bis 2021. Weitere 12,75 Millionen sind nun in Aussicht gestellt worden (vgl. tagesspiegel 2020). Momentan laufen Pilotprojekte an 300 Schulen in Thüringen, Niedersachsen und Brandenburg, am Ende solle für möglichst 44.000 Schulen eine IT-Lern-Infrastruktur angeboten werden. Bezüglich des Datenschutzes gibt es jedoch starke Bedenken. Das ARD-Magazin Kontraste wies in einem Beitrag auf schwere Sicherheitslücken hin, der Datenschutzexperte Thilo Weichert spricht in diesem Zusammenhang von einem “absolut unsicheren und offensichtlich inkompetent gemanagten“ Angebot für Schulen, welches “absolut inakzeptabel und in gravierender Weise rechtswidrig” sei. Laut Weichert wäre es ohne großen Aufwand möglich, “Daten der Schulen einschließlich der Angaben zu den Schülerinnen und Schülern auszuspionieren” (vgl. rbb 2020).

Darüber hinaus haben sich unlängst mehrere mittelständische Bildungsanbieter in einem offenen Brief an Ministerin Anja Karliczek gewandt, in welchem sie kritisieren, dass das Projekt HPI Schul-Cloud die Digitalisierung von Schulen weiter hinauszögere: „Anstatt auf funktionierende Lösungen am Markt zu setzen, warten Schulen und Träger auf das vermeintlich kostenlose Allheilmittel vom Bund. Die Folgekosten und konzeptionellen Einschränkungen, wie die Ausrichtung des Produktes auf wenige Kernfunktionen für den Unterricht, werden dabei verschwiegen.“ (AIXCONCEPT 2020). Die Auswirkungen des Eingriffs durch das BMBF auf den Wettbewerb beschreiben die Mittelständer wie folgt: „Mit der rein singulären Förderung von einzelnen, prominenten Institutionen verletzt das BMBF das Subsidiaritätsprinzip und fügt den mittelständischen Anbietern erhebliche finanzielle Schäden zu. Diese Mittel fehlen bei der Weiterentwicklung der etablierten Lösungen. Die einseitige Förderung staatlicher Angebote behindert den Wettbewerb vielfältiger, bewährter Produkte und zerstört Innovationskraft.“ (ebd.).

Bildungspläne und Unterrichtsentwicklung

Die Überführung der rasanten Entwicklungen in der digitalen Mediengesellschaft in Bildungspläne und Unterrichtsentwicklung stellt eine große Herausforderung dar. Denn bei der Vermittlung von Medienkompetenz geht es nicht nur um technische Fertigkeiten. Die Aufgabe besteht auch darin, Schülerinnen und Schüler anzuleiten, sich neue Fähigkeiten und neues Wissen selbst zu erschließen, diese zur Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume zu nutzen und ihre Bedeutung für die eigene Person und die Gesellschaft zu reflektieren. Daher müssen Bildungspläne und Unterrichtsentwicklung für alle Fächer kontinuierlich weiterentwickelt werden und auf ihre Eignung bezüglich der Vermittlung relevanter Medienkompetenzen hin überprüft werden.

Die Länder haben sich im Rahmen des Digitalpakts dazu verpflichtet, Bildungs- und Lehrpläne sowie die Qualifizierung des Lehrpersonals stärker an den Anforderungen der Digitalisierung auszurichten und die diesbezüglichen KMK-Beschlüsse entsprechend umzusetzen. Wie die bpb jedoch ausführt, bildet die Personalfrage „den großen weißen Fleck der Vereinbarung“. Denn die mit dem Digitalpakt beabsichtigte Digitalisierung des Bildungswesens bedarf auch der pädagogisch-konzeptionellen Einbettung in den schulischen Fächerkanon. Das hierfür erforderliche Personal ist jedoch kostenintensiv und Länder und Kommunen müssen dafür selbständig aufkommen. Nicht zuletzt im Vorgriff auf die ab 2020 vollständig wirksam werdende Schuldenbremse sind Länder und Kommunen jedoch in ihrem Haushalt deutlich eingeschränkter und haben bei Personaleinstellungen sehr vorsichtig agiert (vgl. bpb 2019). Ob es hier zu einem Umdenken und größeren finanziellen Spielräumen kommt, bleibt abzuwarten.

Ferner findet die „Digital Literacy“, also die Gleichrangigkeit von Medienkompetenz zu den Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen, noch zu selten Niederschlag in den Bildungsplänen und der Unterrichtsentwicklung. Medienkompetenz wird noch zu häufig nur im Rahmen von Wahlpflichtfächern, einzelnen Spezialfächern wie Informatik oder erst ab der Sekundarstufe mitgedacht. Dabei ist Medienkompetenz schon ab der Grundschule und in jedem Schulfach relevant und wird von jungen Menschen nicht mehr im Ausnahme-, sondern im Regelfall benötigt. Und die Relevanz wird unweigerlich steigen, unabhängig davon, ob die Medienkompetenz im gleichen Maße mitwächst.

Aus-, Fort- und Weiterbildung

Die Kompetenzen, welche im Bereich digitales Lernen und Lehren nötig sind, eignen sich momentan viele Lehrkräfte im autodidaktischen Selbststudium an. Dabei müssten diese Kompetenzen bereits in der Ausbildung vermittelt werden und durch einen Ansatz des „lebenslangen Lernens“ im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen immer wieder aufgefrischt und vertieft werden. Für die Ausbildung sind jedoch die jeweiligen Hochschulen zuständig, welche das Thema sehr unterschiedlich angehen. In einer Untersuchung von Monitor Lehrerbildung wird ausgeführt, dass es bei der Mehrheit der Länder keine landesweit einheitlichen Vorgaben zum Erwerb professioneller Kompetenzen zum Umgang mit digitalen Medien im Rahmen von Lehrveranstaltungen im Lehramtsstudium gibt (vgl. Monitor Lehrebildung 2018: 6). Bezüglich des Verpflichtungsgrads von Lehrangeboten zum Erwerb digitaler Medienkompetenz in den Lehramtsstudiengängen sieht etwa die Hälfte der Hochschulen solche verpflichtenden Angebote in den jeweiligen Lehramtstypen vor, allerdings nur in einzelnen Lehramtsfächern. Die Anzahl der Hochschulen, die solche Angebote in allen Lehramtsfächern vorsehen, liegt bei jedem Lehramtstyp im einstelligen Bereich (vgl. ebd.: 9). Ferner ist eine verbindliche curriculare Verankerung von Anwendung digitaler Medien und die Reflexion über deren Einsatz in den Praxisphasen nur an etwa einem Viertel der Hochschulen gegeben (vgl. ebd.: 13).

Diese Zahlen zeigen, dass es schon in der Ausbildung an landes- und bundesweiten Ansätzen zur strukturierten und flächendeckenden Implementation digitalen Kompetenzerwerbs in die Studiengänge fehlt. Doch auch im Rahmen der Fort- und Weiterbildung werden diese Versäumnisse nur unzureichend wettgemacht. In einer Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stimmten 85 Prozent der befragten Lehrkräfte mit der Aussage, dass umfassende Fortbildungsangebote dringend nötig seien, überein. Letzteres zeige laut der GEW-Schulexpertin Ilka Hoffmann die Bereitschaft der Lehrkräfte, die Herausforderungen der Digitalisierung anzunehmen, allerdings gebe es offenbar keine umfassenden, flächendeckenden Angebote schulinterner Fortbildung (vgl. GEW 2019). Auch hier ist ein Grund darin zu sehen, dass Bewilligung und Verfügbarkeit von Fort- und Weiterbildungsangeboten innerhalb und zwischen den Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt ist.

Insgesamt ist jedoch zu berücksichtigen, dass, auch wenn fundierte Medienkompetenzen während Aus- und Fortbildung erworben wurden, diese nur durch die entsprechende Ausstattung und Infrastruktur an den Schulen erfolgreich in der Praxis angewendet werden können. Ist dies nicht der Fall, kann aus anfänglicher Motivation schnell Frustration und schlimmstenfalls Resignation werden. Daher müssen die Voraussetzung derart gestaltet sein, dass das Gelernte auch im Schulalltag umsetzbar ist. Die diesbezüglichen Mängel werden im nächsten Abschnitt beschrieben.

Infrastruktur und Ausstattung

Hinsichtlich der digitalen Infrastruktur und Ausstattung unterscheiden sich die Bundesländer stark voneinander. Viele Bundesländer haben es in den vergangenen Jahren versäumt, funktionierende und praktikable Lösungen im Bereich der digitalen Infrastruktur zu schaffen. Auch hier wird durch Ausbleiben einer gemeinsamen Strategie der Länder die Chance vertan, Synergieeffekte zu erschaffen und zu nutzen.

Der Bund versucht im Rahmen des Digitalpakts hier mit eigenen Mitteln die Finanzierung digitaler Bildungsinhalte, z.B. Lizenzen und neue Lernmaterialien, zu erleichtern. Von den seit Mai 2019 zur Verfügung gestellten fünf Milliarden Euro wurde bislang jedoch nur ein Bruchteil abgerufen. Dies hängt unter anderem mit dem sehr bürokratischen Verfahren zum Abruf der Mittel und längeren Vorlaufzeiten zur Erarbeitung des geforderten Medienentwicklungsplan (MEP) durch die Schulen zusammen. Weiter erschwert wird der Mittelabruf durch das eingangs beschriebene „Drei-Chefs-Prinzip“. Denn auch hier sind die Entscheidungsstrukturen und Zuständigkeiten bei den Kultusministerien, Schulleitungen und Schulträgern nicht einheitlich geregelt, was die Umsetzung in der Praxis häufig zum Flickenteppich werden lässt. Neben einer zügigen Umsetzung des Digitalpakts muss aber auch die mittlerweile gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung nach einem flächendeckenden Breitbandausbau vom Bund endlich umgesetzt werden.

Neben der benötigten digitalen Infrastruktur bedarf es aber auch der Ausstattung der Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler mit entsprechenden Endgeräten. Besonders vor dem Hintergrund der schlechten Ausstattungslage ist das Ausbleiben einer einheitlichen Regelung, zumindest auf Landesebene, bezüglich des Konzepts „bring you own device“ (BYOD) fragwürdig. Der Einsatz eigener Geräte im Unterricht würde, bei entsprechender Regelung rechtlicher Aspekte, eine Entlastung für die knappen Budgets der Schulen und auf den Lebensweltbezug der Schülerinnen und Schüler einzahlen. Aber auch hier herrscht aufgrund fehlender Vereinheitlichung große Unsicherheit bei Schulleitungen und Lehrkräften. Aber auch BYOD kann nur eine Übergangslösung sein oder ist hauptsächlich auf die Nutzung des eigenen Smartphones begrenzt. Im Sinne einer Bildungsgerechtigkeit müssen auch diejenigen Schülerinnen und Schüler Zugriff auf entsprechende Endgeräte haben, welche sie nicht selbst oder über die Eltern finanzieren können. Ferner ist ein Einsatz von BYOD auch erst ab der Sekundarstufe wirklich realistisch.

Bildungsmedien und Content

Insbesondere bei Lehrkräften, die sich in der Corona-Krise eventuell zum ersten Mal mit der Vielfalt an digitalen Lerninhalten, Tools und Plattformen auseinandersetzen, entstehen große Unsicherheiten. Diese werden unter anderem durch den Mangel an einheitlichen Qualitätskriterien und Kompetenzen zur Identifizierung der geeigneten Angebote, sowie deren Verknüpfung mit den jeweiligen Bildungs- und Lehrplänen hervorgerufen. Es wäre daher wünschenswert, wenn digitale Angebote auf Länderebene geprüft und zugelassen, sowie mit den Lehrplänen harmonisiert werden.

Insbesondere für den Bereich der offenen, lizenzfreien Unterrichtsmaterialien (sog. Open Educational Resources, OER) sollten Regelungen und Konzepte geschaffen werden, die Lehrkräfte zur eigenständigen Auswahl geeigneter digitaler Lernmaterialien befähigen. Ein einheitlicher Überblick bezüglich der pädagogischen Qualität, Alltagstauglichkeit, Datenschutzkriterien sowie Kosten von OER sollte zumindest auf Landesebene zur Verfügung gestellt werden. Auch die Finanzierung und die Entscheidungsstruktur und Zuständigkeit bezüglich der Beschaffung digitaler Angebote sollten transparent und einheitlich geregelt werden.

Rechtliche und funktionale Rahmenbedingungen

Die kurzfristige Umstellung auf digitalen Unterricht in der Corona-Krise bringt große Unsicherheiten insbesondere bezüglich des Datenschutzes hervor. Und auch schon vor der Krise hat eine von visionYOU im Rahmen der Unterstützung von Schulen bei der Erstellung von Medienentwicklungsplänen durchgeführte Befragung von über 2.500 Lehrkräften ergeben, dass im Bereich des Datenschutzes die größten Unsicherheiten bestehen.

Denn durch die Nutzung digitaler Angebote werden eine Vielzahl an unterschiedlichen Daten über Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler generiert. Der Mangel an transparenten und einheitlichen Strukturen führt auch in diesem Bereich zu zahlreichen Problemen. Die Unsicherheit bezüglich des Datenschutzes führt zum einen zur Nutzung von Anwendungen, die sich in einem datenschutzrechtlichen Graubereich bewegen, und zum anderen zur Verhinderung des ambitionierten Einsatzes digitaler Tools. Dabei gibt es Datenschutzverstöße und -bedenken ja nicht nur im Digitalen. Auch das analoge Klassenbuch oder in Akten abgelegte personenbezogene Daten müssen geschützt werden. Diesbezügliche Datenschutzregelungen sind bereits gelebte Praxis. Es bedarf ebenso klarer und verständlicher Leitlinien für den digitalen Bereich, an denen sich die Nutzer und Entwickler digitaler Bildungsangebote orientieren können. Diese Leitlinien wären sinnvollerweise länderübergreifend zu entwickeln, da sie sich alle auf derselben gesetzlichen Grundlage bewegen.

Und jetzt? Mundschutz abputzen, so nicht weitermachen!

Durch die oben angeführten Punkte hoffen wir, zu einer differenzierteren Debatte beitragen zu können. Ein Allheilmittel für die Beseitigung der Missstände im Bildungssystem wird es sicherlich nicht geben. Klar ist aber auch: An den Symptomen rumzudoktern wird die Ursachen nicht beseitigen. Und in diesem Bild sind teilweise überforderte Lehrkräfte den Symptomen und nicht den Ursachen zuzurechnen. Die richtige Medizin wäre hier eine umfassende Unterstützung seitens der Politik und der gesamten Bildungslandschaft durch die Behebung der genannten Fehler im System. Und diese werden sich nur von allen Beteiligten gemeinsam beheben lassen. Die Diffamierung einzelner Akteurinnen und Akteure, wie es momentan in Bezug auf die Lehrkräfte geschieht, ist dem sicherlich nicht zuträglich. Es würde ihnen ja auch kein Arzt raten, die Ursachen einer Krankheit mit dem Beleidigen der Symptome zu bekämpfen.

Quellen

bpb (2020): “Digitalpakt Schule”. Föderale Kulturhoheit zulasten der Zukunftsfähigkeit des Bildungswesens? Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/apuz/293122/digitalpakt-schule-foederale-kulturhoheit-zulasten-der-zukunftsfaehigkeit-des-bildungswesens?p=0

Zuletzt geöffnet am 28.05.2020

DIE ZEIT (1995): Faule Säcke? Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/1995/26/Faule_Saecke_

Zuletzt geöffnet am 28.05.2020

GEW (2019): „Wie digital ist das Klassenzimmer?“ Online verfügbar unter: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/wie-digital-ist-das-klassenzimmer-antworten-von-ilka-hoffmann/

Zuletzt geöffnet am 28.05.2020

KMK (2018): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2016/2016_12_08-Bildung-in-der-digitalen-Welt.pdf

Zuletzt geöffnet am 28.05.2020

Monitor Lehrerbildung (2018): Lehramtsstudium in der digitalen Welt – Professionelle Vorbereitung auf den Unterricht mit digitalen Medien?! Online verfügbar unter: https://www.monitor-lehrerbildung.de/export/sites/default/.content/Downloads/Monitor-Lehrerbildung_Broschuere_Lehramtsstudium-in-der-digitalen-Welt.pdf

Zuletzt geöffnet am 28.05.2020

tagesspiegel (2020): Konkurrenzkampf im virtuellen Klassenraum. Online verfügbar unter: https://www.tagesspiegel.de/wissen/unterricht-in-der-coronakrise-konkurrenzkampf-im-virtuellen-klassenraum/25723772.html

Zuletzt geöffnet am 28.05.2020

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